Äthiopien auf dem schmalen Grat zwischen Demokratie und Chaos

In keinem Land gab es 2018 so viele interne Vertriebene wie in Äthiopien. Vertreibung und ethnische Gewalt häufen sich. Ob Ministerpräsident Abiy Ahmed die Demokratisierung gelingt, ist unsicher.

Ministerpräsident Abiy Ahmed im Innern eines Taxis.

In Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien, nimmt das Leben seinen gewohnten Lauf. Chinesische Baufirmen ziehen Wolkenkratzer hoch. Im Ausgehviertel Bole treffen sich Äthiopierinnen und Äthiopier zum Bier. Ministerpräsident Abiy Ahmed veröffentlicht auf Twitter frohe Botschaften und hebt Kandidatinnen auf hohe Posten. Bloss wenn die Afrikanische Union tagt, versinkt die Stadt im Stau.

Baustelle in Addis Abeba.

Auf dem Land hingegen häufen sich Tötungen und Vertreibungen. In Mekele, der Hauptstadt der Tigray-Region, verkauft ein Mann Kleider am Strassenrand. Einst besass der 48-jährige Tigray in der amharischen Provinzstadt Gonder ein Haushaltwarengeschäft. Doch wiederholt kam es dort zu Überfällen auf Tigray-Geschäftsleute. Ein Freund verteidigte seine Apotheke gegen eine bewaffnete Bande und bezahlte dies mit dem Leben. «Da beschloss ich, in meine Heimat zurückzugehen.» Seine Familie blieb vorerst. Doch unterdessen möchte auch seine Frau wegziehen. Allerdings sei die Reise gefährlich, sagt der Verkäufer: «Nun steckt meine Familie in Gonder fest.»

In der Region Amhara gibt es Strassenblockaden. Fahrzeuge mit Tigray-Kennzeichen werden angehalten, Fahrer angegriffen. Buspassagiere müssen umsteigen. Ein Tour-Guide in Mekele erzählt: «Meine Fahrer bringen keine Touristen mehr in den Wallfahrtsort Lalibela. Sie haben Angst.»

Landschaft in der Tigray-Region.

Über eine Million Vertriebene

Ethnische Gewalt ist in Äthiopien nichts Neues. Seit dem Tod von Ministerpräsident Meles Zenawi 2012 flackert sie immer wieder auf. Nach dem Umbruch und der Wahl von Abiy Ahmed Anfang 2018 hat sich die Lage verschlimmert. Das Ende des Terrorregimes in Äthiopien weckt zwar Hoffnung, doch die neuen Freiheiten werden für Racheakte missbraucht.

Mehr als 1,4 Millionen Menschen seien allein in der ersten Jahreshälfte vertrieben worden, so das Genfer Internal Displacement Monitoring Centre. Das ist Rekord. Mehr intern Vertriebene gab es 2018 nicht einmal in Syrien oder in Kongo-Kinshasa. Besonders in den Grenzgebieten zwischen den Ethnien kommt es zu Gewalt. Im ersten halben Amtsjahr von Ministerpräsident Abiy verloren dadurch 954 Personen ihr Leben.

Revanche an ehemaligen Unterdrückern

«Es ist ein Krieg gegen die Tigray im Gang», sagt der politische Analyst Daniel Berhane in Mekele. Die Tigray-Minderheit hatte Äthiopien jahrelang regiert. Das hat sich mit der Wahl des Oromo Abiy Ahmed geändert. Positionen in der Verwaltung werden neu besetzt, frustrierte Tigray-Funktionäre ziehen sich in ihre Region zurück. Der Chef der Tigray-Partei TPLF sieht gar eine «ethnische Verfolgung» von Tigray in Militär und Geheimdienst, die jüngst wegen Korruption und Folter angeklagt worden sind.

Daniel Berhane.

Für gewisse Ethnien ist die Zeit gekommen, sich an den ehemaligen Unterdrückern zu rächen. So vertreiben die Amhara viele Tigray-Landsleute aus ihrer Provinz und versuchen gar, ihr Gebiet geografisch auszuweiten. Berhane, der der früheren Regierung nahestand, sieht schwarz: «Die Regierung ist liberaler geworden und dadurch schwächer.» Er hält es gar für wahrscheinlich, dass Äthiopien auseinanderfällt.

Ungeduldige Befreiungskämpfer

Doch nicht nur die Tigray sind unzufrieden. Auch die jungen Oromo, die mit ihren Protesten den Machtwechsel und die Öffnung in Äthiopien erst ermöglichten, sind ungeduldig. Jawar Mohammed ist einer der Wortführer der sogenannten Qeerroo-Bewegung. Bis August operierte er aus dem Ausland, galt unter dem alten Regime als Terrorist. Nun ist der Oromo-Nationalist zurück in Addis Abeba, sein Haus wird streng bewacht.

Jawar Mohammed.

«Derzeit spielen mehrere Fussballklubs im selben Stadion, aber es ist kein Schiedsrichter in Sicht.» Mohammed spielt auf die Situation an, dass in Äthiopien verschiedene Ethnien und ehemalige Rebellengruppen mit unterschiedlichen und zum Teil unklaren Zielen agieren. Der Staat hingegen sei schwach. Doch Mohammed spielt ein doppeltes Spiel, wenn er einerseits die Regierung auffordert, Stärke zu demonstrieren, und andererseits mehr Selbstbestimmung für die Oromo will. Auch wenn er die Qeerroo dazu aufruft, mehr Geduld zu haben.

Ethnische Proteste

Bati Muleta.

Einer der jungen Ungeduldigen ist Bati Muleta. Er sitzt in einem Café in der Oromo-Stadt Ambo, wo die Demonstrationen gegen das alte Regime ihren Anfang nahmen. Der 28-jährige Universitätsdozent ist erst vor zwei Monaten freigekommen. Vor zweieinhalb Jahren wurde er verhaftet, «ohne Grund», wie er sagt. Darauf sass er im berüchtigten Gefängnis von Maekelawi ein, sieben Monate ohne Licht und ohne Kontakt zur Aussenwelt. Bati beschreibt Foltermethoden wie das Ausreissen von Zehennägeln. Er wurde in eiskaltes Wasser getaucht, bis er ein Geständnis unterschrieb.

Flagge der Oromo-Befreiungsfront OLF kurz vor Ambo.

Muleta beschreibt die ambivalente Stimmung in Äthiopien: «Auf Staatsniveau hat sich einiges geändert. Doch in den Regionen sind immer noch die Leute vom alten System an der Macht.» Das sei eine Zeitbombe. «Wenn die Qeerroo keinen Wandel erleben, werden sie für die Regierung zu einer erneuten Gefahr.» Auch wenn er betont, die Oromo-Jugend protestiere stets friedlich.

Dies schien im September nicht so, als Oromo-Nationalisten am Stadtrand von Addis Abeba ganze Strassenzüge in ihren Farben Rot-Grün anmalten. Rund 1500 Nicht-Oromo wurden vertrieben, 28 Personen kamen ums Leben. Das seien nicht Oromo gewesen, sondern «dunkle Mächte», die Zwietracht in Äthiopien säen wollten, sagen Mohammed und Muleta unisono. Das Narrativ von geheimen Netzwerken, etwa aus der alten Tigray-Elite, hält sich hartnäckig, wurde aber bisher nicht belegt.

Der Übergang von einem der brutalsten Regime in Afrika zu einer Demokratie wird nicht problemlos über die Bühne gehen. Das gesteht auch Ministerpräsident Abiy Ahmed ein. Er muss mit der Vergangenheit aufräumen, Arbeitsplätze schaffen und die regionalen Brandherde löschen oder zumindest eindämmen. Es brennt in praktisch allen ethnischen Gebieten. In der Südregion streben einzelne Gebiete nach Sezession. In der Stadt Jijiga in der Somali-Region wurde ein Massengrab entdeckt.

«Jugoslawisches Szenario» möglich?

Alle gegen alle, scheint derzeit das Motto zu lauten. Die Regierung in Addis versucht diesen Kräften entgegenzuwirken. Etwa mit einem Gesetz gegen Hate-Speech. Doch dieses tangiert wiederum die Meinungsäusserungsfreiheit, ein zartes Pflänzchen im neuen Äthiopien, das nicht gleich wieder absterben darf.

Nicht zuletzt will Abiy die Wahlen von 2020 vorbereiten. Die Idee von Demokratie im lange autokratischen Äthiopien ist schön und gefährlich zugleich. Der französische Äthiopien-Kenner René Lefort warnt vor dem Wahlkampf: «Im derzeitigen politischen Klima würde das die Hysterie und Irrationalität nur noch verstärken.» Im schlimmsten Fall könnte es aus Sicht von Lefort zu einem «jugoslawischen Szenario» kommen, also einer ethnischen Aufsplitterung Äthiopiens.

Bar in Zalambessa, an der Grenze zu Eritrea.

Die Liberalisierung und Demokratisierung Äthiopiens freut die Weltgemeinschaft und viele Äthiopier. Doch das Machtvakuum ist gefährlich. Abiy hofft, dass die Gewalt zurückgeht, wenn die staatlichen Institutionen stärker werden. Er sucht die Loyalität der Armee, ist aber auch bereit, mit Gewalt gegen Unruhestifter vorzugehen. Ein zu hartes Vorgehen jedoch würde einen Rückfall in alte Zeiten bedeuten. Das will und kann sich der neue Ministerpräsident nicht leisten. Es ist ein langer Weg auf einem schmalen Grat, der vor Äthiopien liegt.

Dieser Artikel erschien am 27. Dezember 2018 in der Neuen Zürcher Zeitung.

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