Opposition und Militär können sich nicht einigen, wie es weitergehen soll. Während hinter den Kulissen verhandelt wird, gehen die Menschen im Sudan weiter auf die Strasse.

Ein metallenes Bettgestell steht am Strassenrand. Auf der Matratze gähnt Ahmed Ibrahim. Mit Freunden hat der Student hier die Nacht verbracht. Seit Wochen ist er bei den Protesten in Khartum, der Hauptstadt Sudans, dabei. «Anfangs hat das Militär auf uns geschossen, mit Tränengas und scharfer Munition», erzählt Ibrahim.
Heute können die Menschen vor dem Hauptquartier der Armee ungestört demonstrieren. Nachts halten vor allem junge Männer wie Ibrahim die Stellung. Im Tagesverlauf kommen immer mehr Menschen zusammen, trotz Temperaturen von bis zu 40 Grad. Gegen Abend verwandelt sich die Strasse in ein Volksfest. Früchte, Maiskolben und Fahnen werden verkauft. Familien flanieren, und Kinder lassen sich Sudan-Flaggen aufs Gesicht malen. Tausende sind da. Doch Ibrahim wird nach Hause gehen. Er ist erschöpft. «Ich werde morgen wieder kommen», sagt er und wirft einen letzten Blick auf die Menschenmenge. «Das macht mich so stolz, wir haben es verdient als Volk.»
Streit um die Macht
Nach dem Sturz von Langzeitherrscher Omar al-Bashir vor zwei Wochen herrschte in Khartum Euphorie. Darauf folgte der Kater, weil das Militär die Macht übernahm. Die Proteste gingen weiter. Das Militär versprach umgehend eine zivile Übergangsregierung, was neuerlich Hoffnung weckte. Inzwischen ist diese aber abgeflaut. Seit Tagen spielen sich Militär und Opposition den Ball zu. «Sie spielen Pingpong mit uns», klagt eine junge Frau. Das Militär kann es sich leisten, abzuwarten. Der Chef des militärischen Übergangsrates, Abdel Fattah al-Burhan, verkündete am Montag in einem Fernsehinterview: «Die Macht soll zum Volk.» Gleichzeitig rief er die Demonstranten dazu auf, die besetzten Strassen in Khartum endlich zu räumen. Burhan sagte, man warte auf die Vorschläge der Opposition für eine gemeinsame Übergangsregierung.
Die Opposition hingegen will keine Regierung mit dem Militär. Sie hatte deswegen die Gespräche mit dem militärischen Übergangsrat vorübergehend ausgesetzt. Eigentlich wollte die Opposition bereits am Sonntag ihre Kandidaten für eine rein zivile Übergangsregierung präsentieren. Doch das geschah bis heute nicht – ein Hinweis darauf, dass auch im Oppositionsbündnis verschiedenste Interessen aufeinanderprallen. Nach dreissig Jahren Autokratie sind wohl viele Organisationen von der neuen Freiheit schlichtweg überfordert. Die Protestierenden sind keine homogene Masse.
Scharfschützen schossen auf Demonstrierende
Auf der Strasse vor dem Hauptquartier der Armee in Khartum organisiert eine Frauenorganisation an einer Ecke ein Podium. Dazwischen marschiert eine kleine Oppositionspartei durch die Menge. Die Gruppe der Sudanesischen Piloten und Flugzeugmechaniker im Ausland hat ein Transparent an einer Bushaltestelle aufgehängt und will unbedingt mit dem Journalisten sprechen.
Überhaupt ist das Mitteilungsbedürfnis gross. «Hilf uns, die Nachricht unserer Revolution zu verbreiten», sagt ein Student. Vier seiner Freunde seien getötet worden. Von einer Hochhaus-Baustelle hätten Scharfschützen auf die Protestierenden geschossen, erzählen viele. Alle wünschen sich einen neuen Sudan. Alle wollen ausharren, bis ihre Wünsche erfüllt sind. Doch alle Wünsche unter einen Hut zu bringen, wird kaum möglich sein.

Der Sudan steckt in einer Protestschlaufe fest, die sich täglich wiederholt. Morgens aufräumen, mittags der Sonne ausweichen, abends Festival. Auf der Eisenbahnbrücke beim Armeehauptquartier sitzt tagein, tagaus eine Gruppe junger Männer und trommelt mit Schottersteinen einen Rhythmus ans Geländer. Gelegentlich fällt ein Stein auf die Strasse darunter.
Militär an jeder Ecke
Doch insgesamt verlaufen die Protestaktionen friedlich. Die Demonstrierenden haben einen eigenen Sicherheitsdienst installiert. Wer auf den Platz will, muss mehrere Kontrollposten passieren, wird von jungen Männern mit Leuchtwesten durchsucht. Mal darf man einen Kugelschreiber einführen, mal nicht, weil dieser als Waffe genutzt werden könnte. Mit etwas Glück wird man aber bloss freundlich angelacht und darf durchspazieren.
Rund um den Protestplatz ist das Militär postiert. An jeder Ecke erinnern Pick-ups mit Maschinengewehren daran, wer gegenwärtig das Sagen hat. Doch die Rolle der dösenden Soldaten ist nicht klar. Beschützen oder bewachen sie die Protestierenden? Beschützen sie den Staat, und wenn ja, welchen? Spazieren Soldaten durch die Menschenmenge, werden sie manchmal wie Helden gefeiert, meist aber geflissentlich ignoriert. Die jüngeren Offiziere seien auf der Seite der Protestierenden, heisst es, die Armeekader hingegen nicht.
Heruntergewirtschaftetes Land
Im Norden von Khartum, dort, wo Bashir angeblich im Kobar-Gefängnis sitzt, merkt man nichts von der Revolution. Eselskarren transportieren Waren auf den Markt, wo sich Orangen, Mangos und Datteln stapeln. Am Ufer des Blauen Nils trinken abends Studenten Tee und rauchen. Doch die Idylle trügt. Die Hälfte der Bevölkerung des Sudans lebt in Armut, vor allem die Menschen auf dem Land. Das Benzin ist rationiert. Die steigenden Preise für Mehl waren im Dezember 2018 der Auslöser der Proteste.

Wer immer den Sudan in die Zukunft führt, wird mit Problemen konfrontiert sein, die sich nicht so rasch lösen lassen. Im Süden des Landes wollen sich mehrere Provinzen abspalten. Vergangenen Herbst wurde der Wert des sudanesischen Pfunds auf weniger als die Hälfte reduziert. Die Staatsschulden betragen 140 Prozent des Bruttoinlandproduktes.
Da kommt dem Militärrat das Angebot Saudiarabiens und der Vereinigten Emirate für «Soforthilfe» im Wert von 3 Milliarden Dollar nicht ungelegen. Es stärkt die Position des Militärs – und jene der Geldgeber. Die EU hingegen wünscht sich einen raschen Übergang zu einer zivilen Regierung. Für Europa ist der Sudan ein wichtiger Partner im Kampf gegen den Terror und bei den Bemühungen, die Migration aus Ostafrika einzudämmen.
Wiederholt sich die Geschichte?
Der Sudan ist ein Staat in der Schwebe. Seit Mittwochabend sprechen Militär und Opposition wieder miteinander. Sie haben ein gemeinsames Komitee gegründet, um über ihre Meinungsverschiedenheiten zu diskutieren. Das Militär feiert dies als «weitgehende Einigung». Die Opposition hingegen rief für Donnerstag wieder zu einer Grossdemonstration auf, an welcher erstmals auch die Richter des Landes teilnahmen.
Der Druck von der Strasse scheint die Militärs an der Spitze des Übergangsrates wenig zu beeindrucken. Schon einmal, im April 1985, hatte im Sudan ein militärischer Übergangsrat die Macht übernommen. Bald darauf fanden Wahlen statt, und wechselnde Koalitionen übten sich im Regieren. Nach drei Jahren hatte das Militär genug. Eine Gruppe von Offizieren putschte sich an die Macht. Ihr Anführer: Omar al-Bashir.
Dieser Artikel erschien in der Neuen Zürcher Zeitung am 26.04.2019.